„Jede Familie besitzt Erinnerungsstücke“, erklärte Elder Dennis B. Neuenschwander bei der Frühjahrs-Generalkonferenz 1999. „Familien sammeln Möbelstücke, Bücher, Porzellan und andere wertvolle Gegenstände, die sie dann an ihre Nachkommen weitergeben. Solche wunderbaren Andenken erinnern uns an unsere Lieben, die uns bereits verlassen haben, und richten unseren Sinn auf die, die noch nicht geboren sind. Sie bilden eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft der Familie.“
Elder Neuenschwander erklärte ferner, es gebe aber etwas noch Wichtigeres als solche Gegenstände, nämlich die Stammbäume, Familiengeschichten, zeitgenössischen Berichte und Traditionen, die wir übernehmen und weitergeben. Allerdings können die eigentlichen Gegenstände dennoch eine schöne, gar greifbare Erinnerung an diese Geschichten bilden. Sie vergrößern die Wahrscheinlichkeit, dass man die Geschichten immer wieder erzählt und schaffen damit ein Band der Liebe über Generationen hinweg.
Josephs Schaukelpferd
Als ich im Jahr 2000 in Nauvoo war, brachte ich als Andenken unter anderem Weihnachtsschmuck in Form eines kleinen Schaukelpferdchens aus Metall mit. Dazu gehörte auch eine Karte mit der Geschichte eines Schaukelpferds, das einst einem kleinen Jungen namens Joseph Taylor gehört hatte.

Josephs Familie hatte sich 1846 mit einem beladenen Planwagen auf den Weg von Nauvoo nach Utah gemacht, aber das Schaukelpferd, das Josephs Vater geschnitzt hatte, zurückgelassen. Joseph vermisste das Pferd so sehr, dass er zwei Tage lang weinte. Sein Vater, John Taylor, der später der dritte Prophet und Präsident der Kirche werden sollte, beschloss schließlich, nach Nauvoo zurückzureiten – und zwar nachts, um dem Pöbel zu entkommen – und das Spielzeug zu holen. Für die lange Reise über die Prärie band er das Schaukelpferd außen an den Planwagen.
Über 120 Jahre lang gab man das kleine Pferd und seine Geschichte weiter und bewahrte beides auf diese Weise. Schließlich spendete man das Schaukelpferd zugunsten des Restaurationsprojekts von Nauvoo, das in den 60er Jahren ins Leben gerufen wurde. Seitdem wird es im restaurierten Haus der Familie Taylor ausgestellt.
Als ich es zum ersten Mal sah, berührten mich weder das eigentliche Spielzeug noch die Tatsache, dass es schon über 150 Jahre alt war – mich berührte vielmehr die Geschichte jenes Vaters, der seine eigene Sicherheit aufs Spiel gesetzt hatte, um den Kummer seines kleinen Sohnes zu lindern.
Tipp: Sehen Sie sich zu Hause – oder auch bei Ihren Eltern oder Großeltern – nach Gegenständen um, die die Familie seit Generationen weitergibt. Forschen Sie nach, was an diesen Gegenständen so bedeutend war. Sicherlich ist mit den meisten Erinnerungsstücken keine so dramatische Geschichte wie die von Joseph Taylors Schaukelpferd verbunden, aber geben Sie sich nicht damit zufrieden, falls jemand sagt: „Na ja, die Teetasse hat meiner Urgroßmutter gehört. Ich habe sie in ihrer Küche entdeckt.“ Finden Sie ein bisschen mehr darüber heraus! Was bedeutete ihr die Teetasse? Was sagt die Tasse über sie aus? (Möglicherweise war die Urgroßmutter elegant und penibel und ging sehr sorgfältig mit ihrem Besitz um. Vielleicht besaß sie nie viele materielle Güter und die Tasse gehörte zu ihren wenigen wirklich schönen Habseligkeiten.) Wie ist die Tasse letzten Endes in Ihre Hände gelangt?
Crystals Silberlöffel
In einem früheren Artikel für FamilySearch schrieb ich über Crystal Farish, bei deren Großmutter väterlicherseits es Tradition war, jeden Sonntag schwedischen Krautsalat zu essen. Sie servierte ihn in einer mit rosa Blumen verzierten Schüssel und mit einem Silberlöffel, der seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg in ihrer Familie weitergegeben worden war.
Die Schüssel und der Löffel symbolisierten für Crystal die Liebe, Hingabe und Belastbarkeit ihrer Großmutter. Als Crystal erst zwölf Jahre alt war, starb ihr Vater drei Tage vor Weihnachten. Obwohl der Verlust ihres geliebten Sohnes ihr schwer zu schaffen machte, lud Crystals Großmutter die Familie an Heiligabend zu sich ein und bereitete die übliche Mahlzeit zu. So zeigte sie Crystal, dass das Leben auch in Zeiten großen Verlusts weitergeht und dass Familientraditionen ein Rettungsanker sein können.
Tipp: Machen Sie Erbstücke zu einem ganz natürlichen Bestandteil von Familientreffen und Traditionen, damit man die damit verbundenen Geschichten auch weiterhin erzählt. So werden sie von neuem lebendig und gewinnen an neuer Bedeutung. Welche Bedeutung Crystals Löffel aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg jetzt für sie hat, hat wenig mit der ursprünglichen Geschichte zu tun. Er hat für sie an neuer Bedeutung gewonnen, weil man ihn fortwährend verwendete und nicht nur auf irgendeinem Küchenregal verstauben und in Vergessenheit geraten ließ.
Stacys Schreibmaschine
Stacy Julian aus Spokane im US-Bundesstaat Washington besitzt eine alte Schreibmaschine. Sie steht in einem Regal über den Foto- und Erinnerungsalben und neben eingerahmten alten Familienfotos. Einst gehörte sie ihrem Großvater James „Mac“ McDougal; er hatte sie für seine Mission gekauft.

„Aber bloß, weil sie sich nun in meinem Besitz befindet, gewinnt sie für die nächste Generation nicht automatisch an Bedeutung“, erklärt Stacy. Bei einer Familienaktivität wollte sie ihre Kinder mit der Schreibmaschine und deren Geschichte vertraut machen. Sie ließ sie die schwere Maschine hochheben und die Tasten berühren und erklärte, woher der Begriff „Tastatur“ überhaupt stammt (da Kinder heutzutage ja hauptsächlich mit digitalen Tastaturen auf elektronischen Geräten zu tun haben).
„Ich habe den Kindern erzählt, dass ihre Oma noch genau weiß, wie ihr Vater das schwere Teil die Treppe hinaufgeschleppt hat, damit er am Küchentisch Briefe tippen konnte“, berichtet Stacy. Dann las sie ihnen einen Auszug aus einem Brief vor, der auf dieser Schreibmaschine getippt worden war.
Am nächsten Tag stand Stacys achtjährige Tochter Addie nachdenklich vor einem alten Familienfoto an der Wand und fragte: „Das ist Opa mit der Schreibmaschine, oder?“ Stacy bestätigte dies und Addie schlug vor, Stacy könne ihrem Sohn Chase, der gerade auf Mission war, doch auf der Schreibmaschine einen Brief schreiben.
„Addie hat eine Brücke über zwei Generationen gebaut und eine Verbindung zu ihrem Urgroßvater hergestellt“, sagt Stacy – ganz zu schweigen von einer weiteren schönen Verbindung: Briefe, die in einem Abstand von 80 Jahren an Missionare und von Missionaren in der gleichen Familie auf der gleichen Schreibmaschine getippt worden sind.
Tipp: Schaffen Sie Gelegenheiten, bei denen Sie Ihren Kindern und Enkeln Geschichten über Andenken der Familie so vermitteln können, dass sie für sie an Bedeutung gewinnen. Schaffen Sie eine Verbindung zwischen diesen Gegenständen und aktuellen Situationen (wie Stacy es mit der Tastatur tat) sowie den Vorfahren, denen sie einst gehört haben. Dank einer einzigen Familienabendlektion wissen Stacys Kinder jetzt etwas ganz Konkretes über einen ihrer Urgroßväter.
„Wir alle freuen uns ja auf das große Familientreffen nach diesem Leben“, sagt Stacy. „Aber wir wollen uns doch nicht nur darauf vorbereiten, den Vorfahren, die wir erforscht haben, zu begegnen, sondern uns auch mit ihnen zu unterhalten. Wir wollen nicht bloß ihre Namen und Eckdaten kennen. Wenn wir eine Verbindung geschaffen und Gemeinsamkeiten entdeckt haben, haben wir umso mehr Gesprächsstoff!“
Angies Fünf-Generationen-Decke
Ich arbeite derzeit an einem Andenken, das mir weitaus mehr bedeutet als viele kleine Erbstücke, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben. Momentan befinden sich die verschiedenen Teile davon in einer schwarzen Schachtel in der oberen Schublade meiner Kommode.
Es handelt sich um eine Decke, mit der meine Urgroßmutter vor mehreren Jahrzehnten angefangen hat. Das Blumenmuster ist, wie meine Großmutter mir erklärte, dem Rauen Sonnenhut nachempfunden. Nach dem Tod meiner Uroma nahm meine Oma die Schachtel an sich und arbeitete an der Decke weiter. Wenn sie nicht gerade mit einem ihrer vielen anderen Nähprojekte beschäftigt war, nahm sie ab und zu ein paar Flicken zur Hand und nähte sie zusammen.

Einmal stand ich in ihrem Nähzimmer und sie erzählte mir von der Schachtel mit Stoffresten. Ich sagte ihr, wie gut mir die Muster und die Farben gefielen. „Möchtest du die gerne haben?“, fragte sie. „Ich bezweifle, dass ich je damit fertig werde.“ Ich hatte gar nicht bedacht, dass man in Oma Nevas Gegenwart nichts bewundern konnte, ohne dass sie es einem dann geben wollte. Dennoch nahm ich ihr Geschenk freudig an.
Sie ist dieses Jahr gestorben, und sie hatte Recht: Sie hätte es nicht geschafft, die Decke fertigzustellen. Ich werde es aber schaffen. Ich werde auch meine Mutter um Hilfe bitten, denn sie näht viel besser als ich, und vielleicht lasse ich sogar meine kleine Tochter ein, zwei Stiche hinzufügen. Wenn die Decke einmal fertig ist, haben fünf Generationen daran gearbeitet, angefangen bei Ila Priscilla Olsen Turner, die 1908 zur Welt kam, bis hin zu Keira Jane Lucas, die erst 2010 das Licht der Welt erblickt hat.
Und was verbinde ich dann mit diesem Andenken? Etwa die Hände meiner Großmutter, mit denen sie akribisch nähte und immer wieder den ersten Preis auf Volksfesten erzielte. Oder meine Kindheit und wie ich zwischen den auf Quiltrahmen befestigten Decken spielte und zuschaute, wie die Nadel immer wieder durch die Decke geführt wurde. Oder die bewundernswerte Sparsamkeit meiner Großmutter (kein Stoffrest war zu klein, um ihn aufzuheben), aber auch ihre Großzügigkeit (alle Kinder und Enkel bekamen zum Schulabschluss und zur Hochzeit eine selbstgemachte Decke).
Tipp: Als ich im Nähzimmer meiner Großmutter stand und sie mir etwas über den Stoff und die Decken erzählte, war ich eigentlich gerade in ihrem Haus unterwegs, um Fotos zu schießen. Meine Großeltern wurden zusehends schwächer und würden wohl nicht mehr lange alleine wohnen können, das war mir bewusst. Also ging ich von Zimmer zu Zimmer und fotografierte Gegenstände und Nippes, die mir aus meiner Kindheit besonders in Erinnerung geblieben waren. Ob ich davon irgendwann überhaupt etwas bekam, wusste ich nicht, aber so hatte ich doch auf jeden Fall die Fotos, mit denen ich Erinnerungen wecken kann. Einige Fotos und Geschichten lade ich auf jeden Fall im Bereich „Erinnerungen“ im Profil meiner Großmutter auf FamilySearch.org hoch.
Worauf es ankommt
„Wenn ich will, dass meine Kinder und Enkel diejenigen kennen, die in meiner Erinnerung noch lebendig sind, muss ich die Brücke zwischen ihnen bauen“, erklärte Elder Neuenschwander 1999 in seiner Konferenzansprache. Gegenstände, Erinnerungsstücke und Andenken können diese Brücken auf eine greifbare, zugängliche Art und Weise bauen und die Erinnerungen für die jüngeren Generationen lebendiger machen. Man kann also nicht nur eine Geschichte erzählen oder ein Foto anschauen, sondern es gibt Schaukelpferde, Silberlöffel, Schreibmaschinen und Decken, die die Geschichte zum Leben erwecken.
„Meine Enkel werden nichts über die Geschichte ihrer Familie wissen, wenn ich nichts tue, um sie für sie zu bewahren“, so Elder Neuenschwander weiter. „Was ich nicht auf irgendeine Weise festhalte, wird verloren sein, wenn ich sterbe; und was ich nicht an meine Nachkommen weitergebe, werden sie nie besitzen.“